Leseprobe

„Rette sich wer kann! Bringt euch in Sicherheit!“ kamen die Rufe von der Straße. Durch das kleine Fenster konnte David die Stimmen der Menschen hören. Er stieg auf sein Bett, um zwischen den dicken Vorhängen hindurchzuschauen. Es war Nachmittag, und die meisten Menschen waren draußen unterwegs. Auf der Straße vor dem Haus herrschte reges Gedränge, und David sah, wie die Menschen aus ihren Häusern rannten.

Die Wohnung, in der David mit seinen Eltern wohnte, war ziemlich heruntergekommen. Doch sie konnten sich glücklich schätzen, dass sie überhaupt eine Unterkunft hatten. Im Frühjahr 1944 waren eigentlich schon alle Juden weggebracht worden, und wer den Nazis nicht entkommen konnte, musste sich verstecken. Allerdings war der Großteil der Menschen in Mannheim den Juden gegenüber nicht gut gestimmt, und man musste immer Angst haben, denunziert und ausgeliefert zu werden. Doch es gab auch Menschen, die den Juden halfen zu überleben und ihnen ein Dach über dem Kopf gaben.

Einer von ihnen war Frau Wenzel. Sie war schon sechsundsechzig Jahre alt und hatte zwei Wohnungen in dem Haus. In einer wohnte sie, und in der anderen lebte eigentlich ihr Sohn. Aber der war momentan im Krieg – und somit stand die zweite Wohnung leer. Darum hatte Frau Wenzel den Königs, also David, seiner Mutter Rahel und seinem Vater Aaron, gestattet, in der Wohnung zu leben, um sie vor den Nazis zu schützen. Das war etwas ganz Besonderes, denn im Allgemeinen nahm keiner das Risiko auf sich, Juden bei sich zu verstecken. Die Gefahr war zu groß, dass man entdeckt und selbst deportiert wurde.